Auf den ersten Blick wirkt Kaffee ohne Koffein wie Kuchen ohne Teig oder Auto ohne Räder: möglich, aber sinnlos.
Auf den ersten Blick wirkt Kaffee ohne Koffein wie Kuchen ohne Teig oder Auto ohne Räder: möglich, aber sinnlos.
Daran ist nicht zuletzt die Kaffeewelt selbst schuld. Sie hat es jahrzehntelang nicht geschafft, entkoffeinierte Bohnen mit einer ähnlichen Sorgfalt zu behandeln wie „normalen“ Filterkaffee oder Espresso. Auch in meinem Kaffeebohnen Test habe ich bisher keine Decaf-Testsieger gesucht.
Doch das ändert sich gerade. Und zwar gewaltig. Plötzlich bietet jeder gute Röster entkoffeinierten Kaffee nach Specialty-Coffee-Maßstäben an. Auch im Coffeeness-Shop findet ihr jetzt eine Decaf-Röstung für Kaffeevollautomaten.
Ein Teil des Koffeinfrei-Booms hat mit (falschen) Gesundheitsversprechen von entkoffeiniertem Kaffee zu tun. Entkoffeinierter Kaffee soll besser für die Zellen, das Cholesterin, für Schwangere, in der Stillzeit und was nicht alles sein.
Viel wichtiger ist allerdings, dass guter Kaffee ohne (viel) Koffein inzwischen auch einfach gut schmeckt. Woran das liegt, wie Bohnen ihr Koffein verlieren und wie ihr eure persönlichen Testsieger findet, klären wir hier.
Als ganze Bohnen oder gemahlen: Was ist koffeinfreier Kaffee?
Koffeinfreier Kaffee ist Kaffee, dem das enthaltene Koffein nahezu vollständig entzogen wurde. Nahezu deshalb, weil wirklich koffeinfreier Kaffee (bisher) nicht existiert. Solange kein Kaffeebauer eine komplett koffeinfreie Kaffeepflanze züchtet, müssen wir korrekterweise von entkoffeiniertem Kaffee sprechen.
Denn das Alkaloid wird nachträglich in aufwendigen Verfahren aus den Kaffeebohnen entfernt. Ein kleiner Rest bleibt also immer.
Laut §2 der Kaffeeverordnung darf entkoffeinierter Kaffee (Roh- oder Röstkaffee) bis zu einem Gramm Koffein pro Kilogramm Trockenmasse enthalten. Zum Vergleich: Arabica und Robusta mit Koffein enthalten zwischen rund 13 und 24 Gramm.
Auf eine Tasse mit 250 ml gerechnet, kommt entkoffeinierter Kaffee immer noch auf bis zu fünf mg Koffein.
Vergleichen wir diese Werte aber mit unserer Koffein-Studie, ist entkoffeinierter Kaffee trotz allem praktisch koffeinfrei:
Ein klassischer Espresso aus dem Siebträger oder Kaffeevollautomat kommt pro Portion auf etwa 68 mg, eine Tasse Filterkaffee aus der Kaffeemaschine sogar auf 170 mg. Wie auch bei normalem Kaffee hängt der Restkoffeingehalt in der Praxis wesentlich davon ab
Welche Röstung ihr verwendet (Espresso- vs. Filterröstung)
Wie fein die Kaffeebohnen gemahlen werden
Wie lange Wasser & Kaffeemehl Kontakt haben
Bei welcher Temperatur die Extraktion erfolgt
Ein Espresso aus dem Kaffeevollautomat hat pro 100 ml Flüssigkeit wiederum deutlich mehr Koffein als ein Filterkaffee – einfach, weil Kaffee und Wasser anders in Kontakt kommen.
Mit Dichlormethan oder ohne Chemie: Wie entsteht entkoffeinierter Kaffee?
Koffein soll Fressfeinde abwehren und ist nur schlecht löslich. Um die Moleküle zu entfernen, brauchen wir also mehr oder minder aggressive Verfahren und mehr oder minder problematische Lösungsmittel.
Die meisten Industrieanbieter von Illy bis Nespresso oder Aldi-Eigenmarke setzten früher auf Chemie. Auch wenn diese lebensmittelrechtlich unbedenklich war, blieb doch immer ein Rest Zweifel. Und ein ziemlich schlechter (Bei-)Geschmack.
Inzwischen gibt es eine ganze Reihe an Bio-Entkoffeinierungsverfahren, die nicht nur für Bio-Kaffee eingesetzt werden.
Roselius Verfahren: Von Natur aus krebserregend
Ludwig Roselius ist der Erfinder der industriellen Entkoffeinierung und legte mit seinem Verfahren den Grundstein für die Marke Kaffee HAG. Das Roselius-Verfahren setzte allerdings auf das Lösungsmittel Benzol – das ist nicht nur krebserregend, sondern in vielerlei Hinsicht toxisch. Es wird jedoch schon lange nicht mehr eingesetzt.
Direktes Verfahren mit Dichlormethan: Ungesund oder nicht?
Dichlormethan war lange Zeit das Lieblingslösemittel der Decaf-Industrie. Es ist vergleichsweise günstig und wird direkt in das Aufweichwasser gegeben. Daher auch der Verfahrensname.
Dichlormethan steht zumindest im Verdacht, krebserregend zu sein. Außerdem weisen Studien auf die allgemein schädlichen Einflüsse auf das Nervensystem, die Leber usw. hin (vgl. Schlosser et al. 2017).
Ich habe vor einer Weile mal einen Entkoffeinierter-Kaffee-Test mit Dichlormethan-Bohnen von Jacobs gemacht. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Mischung stechend sauer und richtig ekelhaft roch. Die Bewertung könnt ihr euch vorstellen.
Dichlormethan verschwindet zwar zunehmend aus der Produktion, ist aber bei günstigen Sorten immer noch gängig. Das schreiben die Hersteller jedoch nicht drauf.
Wenn auf einer Packung von Lidl-, Amaroy-, Starbucks-Kaffee usw. nichts über das Verfahren steht, müsst ihr bisher noch davon ausgehen, dass es sich um die direkte Dichlormethan-Methode handelt.
Direktes Verfahren mit Ethylacetat: Bedenkenlos kaufen?
Ethylacetat als Mischung aus Alkohol und Essigsäure ist gesundheitlich komplett unproblematisch und wird bei guten Röstereien sogar selbst aus Zuckerrohr-Melasse und Essigsäure hergestellt.
Wird das Verfahren in der Industrie verwendet, fehlt es meist an Angaben zur Herkunft und Herstellung des Lösungsmittels. Dafür steht „natürlich entkoffeiniert“ auf der Packung.
Ansonsten gibt es keine Bedenken. Bisher kann ich jedoch keine geschmackliche Bewertung zu industriellem Kaffee aus diesem Verfahren abgeben.
Flüssiger Stickstoff: Bester Ansatz, leider zu teuer?
Stickstoff ist in der Theorie ein sehr gutes Lösungsmittel, ungiftig und geschmacksneutral. Es wurde laut einiger Aussagen eine Weile lang von Illy zur Entkoffeinierung eingesetzt. Allerdings sind sowohl der Rohstoff als auch die Methode einfach zu teuer. Blöd.
Swiss Water Process: Für Jacobs Krönung zu aufwendig?
Der patentierte Schweizer-Wasser-Prozess wurde Ende der 1970er entwickelt und nutzt für die Entkoffeinierung bereits verwendetes Wasser einfach nochmal. Vor der Wiederverwendung wird das Wasser durch einen Aktivkohlefilter von Koffein gereinigt.
Der Gedanke dahinter: Das „aufgeladene“ Wasser enthält zwar kein Koffein, dafür aber alle Aromen, die Kaffee so besonders machen. Werden neue Kaffeebohnen in diesem Wasser entkoffeiniert, bleibt das Aroma erhalten.
Wenn ihr es ganz genau wissen wollt, könnt ihr euch den Prozess auf der Unternehmensseite erklären lassen. Auch diese Idee konnte sich bisher nur halb durchsetzen. Denn der Aufwand ist enorm und lohnt sich für billige Industriebohnen einfach nicht.
Koffeinfrei (& Bio) mit Kohlenstoffdioxid
Im Vergleich zu anderen Methoden setzt das CO2-Verfahren auf Wasserdampf und Kohlendioxid als gasförmiges Lösungsmittel. Durch Druck wird das Koffein aus den Bohnen gelöst und kann anschließend für andere Dinge weiterverwendet werden.
Die Methode wird sehr gern für Bio-Kaffee und nachhaltigen Kaffee angewendet, da sie rein physikalisch funktioniert. Auch der Lavazza Decaffeinato und andere Industriemischungen sollen darauf setzen. Allerdings sind das nur Gerüchte, die nirgendwo genauer erklärt werden.
Schwangerschaft, Stillen, Bluthochdruck & der Rest: Ist entkoffeinierter Kaffee gesund?
Ich werde nie verstehen, warum wir Kaffee als gesund oder nicht gesund qualifizieren müssen. Ich kann aber verstehen, dass viele ein Problem mit Koffein haben. Oder es zumindest glauben.
Im Zuge der Entwicklung meiner entkoffeinierten Kaffeebohnen habe ich mich intensiv mit der wissenschaftlichen Seite von Koffein beschäftigt:
Dabei habe ich vor allem herausgefunden, dass wir als Menschheit erstens im Grunde nichts über Kaffee bzw. Koffein wissen und zweitens bei jedem Gesundheitsclaim hinterfragen müssen, welche Motive dahinter stehen, wie zum Beispiel zur Wirkung des Glow Kaffees.
Gibt es eine Koffeinunverträglichkeit?
Das Wort „Koffeinunverträglichkeit“ ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Denn streng genommen vertragen wir alle kein Koffein.
Denn der erwünschte Effekt (Aktivierung, Wachheit usw.) schlägt bei jedem ab einer gewissen Dosis ins Gegenteil um. Herzrasen, Magenprobleme usw. werden aber gern als spezifische Unverträglichkeitssymptome genannt.
Die Empfindlicheren unter uns sind also grundsätzlich besser dran, wenn sie ihre Koffeindosis möglichst gering halten. Ob nun mit entkoffeinierten Bohnen oder weniger Tassen Kaffee.
Ist Koffein ein Histamin (& schädlich)?
Für die Einordnung von Kaffee (mit oder ohne Koffein) als möglicher Allergie-Booster existieren keine eindeutigen, noch nicht einmal ausreichende Studienergebnisse.
Ich konnte nur zwei wissenschaftliche Texte finden, die sich komplett widersprechen und teilweise hoffnungslos veraltet sind. Dafür habe ich einen Haufen Bullshit-Seiten entdeckt, die von Koffein als Histamin sprechen.
Ein Hoch auf den Placebo-Effekt!
Abseits sämtlicher tatsächlicher Wirkungen ist entkoffeinierter Kaffee vor allem eine großartige Möglichkeit, euch selbst zu überlisten:
Die gute Seite: Wenn ihr euch von Koffein entwöhnen wollt, können euch Decafs hervorragend dabei unterstützen. Die schlechte Seite: Ihr werdet am Anfang eventuell genauso um den Schlaf oder die Seelenruhe gebracht wie bei normalem Kaffee. Ausführlich rede ich darüber im Artikel Kaffee und Schlaf.
Der Kaffeebohnen-Test: Was macht (fehlendes) Koffein mit dem Geschmack?
In purer Form schmeckt Koffein bitter – und trägt damit wesentlich zum charakteristischen Aroma von Kaffee bei. Auf der anderen Seite schmeckt „koffeinfreier Kaffee“ damit tendenziell milder und runder.
Allerdings verlieren viele Kaffeebohnen im Koffeinentzug nicht nur Bitterstoffe, sondern sehr viel Geschmack. Das Aufweichen der rohen Bohnen subtrahiert genauso viel Aroma wie das Durchspülen oder Bedampfen mit verschiedenen Entzugsmitteln. Das lässt sich auch nicht mit einer Idee wie dem Schweizer-Wasser-Prozess verhindern.
Im Umkehrschluss heißt das allerdings, dass ein guter Röster bei Decaf-Angeboten alle seine Fähigkeiten zeigen kann:
Er wählt besonders aroma- & ausdrucksstarke Rohbohnen
Er geht beim Decaf-Verfahren genauso sorgfältig vor wie beim Rösten
Er passt die Röstung & Röstmethode an die Decaf-Voraussetzungen an
Etwa starke Schokonoten mit einer Extraportion Würze und Nuss kommen auch ohne Bitter-Unterstützung von Koffein aus. Erst recht als Espresso.
Das ist übrigens eines der Geheimnisse hinter unserem entkoffeinierten Kaffee in Zusammenarbeit mit backyard coffee. Ein weiteres ist die Expertise, mit der Wolfram und sein Team ans Werk gehen.
Entkoffeinierte Filterröstungen laufen häufig Gefahr, an Aroma, Geschmack und Spannung zu verlieren – vor allem, wenn ihr auf sehr helle Noten setzen wollt, die besonders flüchtig sind.
Industriemarken wie Jacobs Krönung, Bellarom, Tchibo oder Melitta könnt ihr hier komplett vergessen – die Decaf-Kaffeebohnen schmecken noch fader als die normalen Angebote.
Bei hippen Decaf-Marken wie No Coffee oder OHNE habe ich bisher keine Meinung und Empfehlung. Mir fällt nur auf, dass OHNE Coffee aus Hamburg bei der Transparenz um einiges informationsreicher ist als das wortreiche No-Coffee-Marketing.
Was ist entkoffeinierter Kaffee? Vor allem viel besser als sein Ruf!
Seitdem „koffeinfreier“ Kaffee nicht mehr wie der vertrottelte kleine Bruder echter Bohnen behandelt wird, lohnt sich der Blick in die Decaf-Abteilung immer mehr. Röster haben erkannt, dass guter Geschmack nicht am Koffeingehalt hängt.
Andersherum fehlt in meinen Augen noch viel Aufklärung, wenn es um Krankheiten oder Unverträglichkeiten geht. Entkoffeinierter Kaffee ist grundsätzlich weder besser noch schlechter als der klassische Espresso. Nicht einmal beim Thema Schlaf.
Ich habe mir vorgenommen, der koffeinfreien und koffeingesenkten Abteilung in meinem Kaffeebohnen Test 2024 demnächst mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Denn das hat sie definitiv verdient. Sollten wir jemals Hunde-Zuwachs bekommen, wäre „Decaf“ als Hundename meine Wahl.
Habt ihr eine Empfehlung für Kaffee oder Espresso ohne Koffein? Wie steht ihr zum Thema koffeinfreier Kaffee und was möchtet ihr noch wissen? Hinterlasst mir gern einen Kommentar!
FAQ
Der maximal zulässige Koffeingehalt in Deutschland beträgt ein Gramm Koffein pro 1.000 Gramm Rohkaffee. Der tatsächliche Gehalt hängt (auch) von den Bohnen, ihrer Verarbeitung und dem Zubereitungsverfahren ab.
Laut Stand der Wissenschaft kann Kaffee in jeder Form Einfluss auf den Magen, die Verdauung usw. haben. Was euer Körper damit macht, ist eine individuelle Frage. Entkoffeinierter Kaffee ist an sich weder gesund noch ungesund.
Selbst das sorgfältigste Entkoffeinierungsverfahren kann nicht sämtliches Koffein entfernen. Darum solltest du dich stets mit einem Arzt besprechen, falls du aus Gründen kein Koffein zu dir nehmen sollst, dennoch Decaf-Optionen trinken willst.